Unsere Demokratie – Schein oder Sein?

Gibt es in der Welt einen Staat, in dem heute eine wirkliche Demokratie gelebt wird? Wie sieht die Demokratie aus in einem der grössten Ländern der Welt, die allen anderen «ihre» Form der Demokratie aufzwingen will? Sind Demokratien stabile Staatsgebilde? Und dürfen Einschränkungen bei starken Dystopien gemacht werden? Welche Rolle spielen stets die Informationen?

Ein wesentliches Merkmal einer Demokratie
Abraham Lincoln, ehemaliger US-Präsident, soll die Demokratie mit dem Ausspruch «Regierung des Volkes durch das Volk für das Volk» beschrieben haben. Das bedeutet in erster Linie Volkssouveränität. Ein wesentlicher Gradmesser dafür ist, inwieweit sich «das Volk» von seiner Regierung vertreten fühlt. Gibt es «das Volk» überhaupt?
Julian Niga-Rümelin hat in seiner Eröffnungsrede zu den Salzburger Festspielen 2021 von «Demokratie heisst nicht Mehrheitsdiktatur» gesprochen. Er meinte dazu auch: «Es gibt keine souveränen Nationalstaaten mehr. Wir sind eingebettet in rechtliche, ökonomische, soziale Zusammenhänge.» Was kann dann, wenn es derartige Einschränkungen und Zwänge gibt, Volkssouveränität sein? Es kann sich in einem ausgeprägten Gemeinwesen ausdrücken, einer Zivilkultur, die auf Humanismus gebettet ist, idealiter sogar auf einer humanistischen Utopie (so Niga-Rümelin). Das Minimalziel dazu ist der kooperative Zusammenhalt im eigenen Land (hier wird «Land» bewusst gewählt und nicht «Staat»!). Aber das reicht nicht aus, wie jedermann tagtäglich an der Flüchtlings- und Migrationsbewegung erkennen kann. Staatensouveränität setzt voraus, dass in einer Welt der ökonomischen Globalisierung faire Wettbewerbsbedingungen gelebt werden. Dieser Aspekt rechtfertigt einen eigenen Essay; wie aber an den Terroranschlägen in Frankreich und in Deutschland sowie an den sexuellen Übergriffen in Köln und Wien klar erkennbar ist, hat diese auch eine Spaltung innerhalb der in den jeweiligen Staaten lebenden Menschen (hier wird wiederum bewusst nicht das Wort «Volk» gewählt) geführt. Der Begriff «Wendehälse» von 1989 kann heute wieder angewendet werden. Aus der Willkommenskultur von 2015 hat sich eine Abschiebekultur entwickelt bei gleichzeitigen Verlockungen einer Green-Card für ausländische Arbeitskräfte. Wie soll dann Integration gelingen, wenn es bisher nicht geklappt hat?

Das Wirtshaus als Ort gelebter Demokratie
Wie kann ein kooperativer Zusammenhalt im eigenen Land erreicht werden? Ich erinnere mich an meine Aufenthalte in den Ferien in den 60er-Jahren, an die Sonntage mit ihren Ritualen. Der Sonntagsgottesdienst war für alle ein absolutes Muss, und meine Base wusste jeden Sonntag zu berichten, wen sie alle nicht gesehen hat oder wer nicht andächtig genug gewesen ist. Nach dem Gottesdienst haben sich die Männer in den verschiedenen Gasthäusern im Dorf getroffen, und die Frauen sind nach Hause gegangen und haben den z’Mittag vorbereitet. – Ich will hier keinesfalls dem alten Rollenbild nachtrauern! – Ich erinnere mich an verrauchte Wirtshausstuben und an oftmals lautstarke Debatten an allen Tischen. Das war – in meiner Erinnerung – gelebte Volkssouveränität. Man hat sich ausgetauscht, die Meinung gesagt und ist in Frieden auseinandergegangen. Leider ist von dieser Kultur so gut wie nichts mehr übriggeblieben, und auch die «Mütterrunden» (und sonstige Frauentreffs) gibt es kaum noch.

Es gibt auch fast keine Gasthäuser mehr, zumindest nicht mit dem Flair von damals. Stattdessen machten sich Isolation und Depression breit bei gleichzeitiger «immerwährender Verfügbarkeit» durch die neuen Kommunikationsmöglichkeiten. Der persönliche Umgang wurde seicht, und wahre Auseinandersetzungen gibt es so gut wie nicht mehr, und wenn doch, dann mit einem beängstigenden Beharrungsvermögen: Eingehen auf den anderen, dessen Meinung akzeptieren: Fehlanzeige! So wie der sonntägliche Kirchgang abgenommen hat, haben auch die Tugenden abgenommen, dafür aber – als scheinbarer Ausgleich – die «Todsünden» zugenommen (sehen Sie sich dazu die Todsündenkanzel in Reichenthal im Mühlviertel an). Nachrichten und Informationen waren die treibende Kraft, ins Gasthaus zu gehen. Zeitungen gab es früher auch schon. Der Unterschied: Das, was in der Zeitung stand, wurde stets als «die Wahrheit» empfunden.

Die Informationsflut über die sozialen Medien führen zu einer weiteren Reizüberflutung, und was «True or Fake» (wahr oder falsch) ist, kann heute oftmals nur mehr schwer herausgefunden werden.

Informationen als Gefahr für die Demokratie
«Pandemie trifft Infodemie!» So lautet ein Vortragstitel in der Teleakademie. «Informationen» zu erstellen und zu verteilen, ist heute für jedermann eine Sache von Minuten. Als «wahr» wird nicht wahrgenommen, was auf Tatsachen beruht, sondern das, was in das eigene Weltbild, die eigene Anschauung, passt. Und diese «Meldungen» werden zig-Mal geteilt, verbreitet, gedeutet und spalten die Gesellschaft, wie ein Keil einen Baum zu spalten vermag. Wie kann es dazu überhaupt kommen? Alexander Meschnigg ortet «die modernen Massenmedien als konzentrierte Angstmaschinen». Die Spaltung der Gesellschaft findet dadurch statt, weil damit zwei oder mehrere Gemeinschaftssinn-Gruppen geschaffen werden. Im Falle der Pandemie sind das die Geimpften versus der Nicht-Geimpften, bei der S-Bahn waren es die S-Bahn-Befürworter versus die S-Bahn-Gegner.
Rationale Argumente finden keinen Anklang mehr und werden daher auch meist gar nicht erwähnt. Eine objektive Auseinandersetzung? Fehlanzeige! Ich frage mich: Wie wäre das Thema «S-Bahn» in den 60er-Jahren abgehandelt worden?

Die Macht der Medien
«Zeitungen sind eben hartnäckig», singt Erika Pluhar in «Es war einmal, und es war einmal schön». Dass soziale Medien unsicher sind, weiss heute jedes Kind. Bei Zeitungen ist das oftmals noch anders. Wäre ein Silvio Berlusconi ohne seine Medienmacht je Ministerpräsident in Italien geworden? Die Welt wird schnelllebiger, und damit verkürzen sich auch die Empörungszyklen. «Was kümmert mich das Gestern, wenn wir nach vorne schauen sollen!» Wie wäre die letzte Landtagswahl in Liechtenstein ausgegangen, wenn alle Parteien die gleichen Möglichkeiten der Informationsweitergabe gehabt hätten? Und wenn jede Nachricht von einer unabhängigen Kommission auf den Wahrheitsgehalt untersucht worden wäre? Kann aufgrund der Berichterstattungen – sowohl das Was, als auch das Wie, und Wie lange bzw. Wie oft – von einer Mediendiktatur gesprochen werden? Haben die verschiedenen Parteien «gleich lange Spiesse»? Der Umfang der Sendeminuten, die jede Partei bekommen bzw. bezahlt hat, wäre ein interessanter Index für die Qualität der Demokratie im Land. Aufgrund der jeweiligen Berichterstattung, was und wie berichtet wurde, und was nicht berichtet wurde, fällt mein Resümee klar aus: Wir haben im Land eine Mediendiktatur! Damit wird Meinung, die sich jeder Liechtensteiner bilden kann (man könnte auch von «muss» sprechen), einseitig geprägt und von der «Medienmacht» (die gleichzeitig auch die herrschende politische Macht ist) bestimmt. Der Volkswille kann damit nicht mehr frei entwickelt werden, und zusammen mit der Tradition im politischen Gefüge wird jede Demokratisierung behindert.

Bildung und Information: Die Stärkung der Demokratie
Wissen und Information sind wesentliche Grundpfeiler einer Gesellschaft und damit auch der Demokratie. Den Begriff vom «lebenslangen Lernen» gibt es schon seit vielen Jahren; er wird leider nur auf den Beruf bezogen angewendet. Bildung wird immer mehr auf MINT (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik) fokussiert.
Gleichzeitig nehmen Depressionen sowie physische wie psychische Krankheiten zu. Das gedeihliche Zusammenleben wird durch MINT nicht gestärkt, eher das Gegenteil ist der Fall. Was das prosperierende Zusammenleben stärken kann, sind Ethik, Psychologie und Philosophie sowie politische Bildung. Unser Bildungssystem schränkt diese Gegenstände immer mehr ein, und wir wundern uns, dass die gesellschaftlichen Probleme zunehmen. Bildung ist mehr als Schule und beginnt bei der Geburt und endet mit dem Tod. Liechtenstein ist reich an Vereinen; damit aber nicht genug: Sie könnten einen wesentlich höheren Beitrag zur Bildung (inkl. Bewegung) leisten, wenn wir die Rahmenbedingungen dazu deutlich verbessern. Information – vor allem die Informationsverarbeitung – setzt Bildung voraus. In einer Zeit, in der Fake-News oftmals nur mehr schwer erkannt werden können, wird primäre Information wichtiger. Wie kann Herr Leon und Frau Emma* Liechtenstein zu primären Informationen kommen? Stellen wir uns vor,
jeder Landtagsabgeordnete muss x-Mal (z.B. 2 bis 4) pro Jahr eine öffentliche Sprechstunde abhalten. Das kann auch parteiübergreifend gestaltet werden, d.h. mehrere Abgeordnete kommen gemeinsam. Jeder Abgeordnete berichtet von seiner Arbeit und bekommt unmittelbare Rückmeldungen. Unmittelbarer kann es nicht mehr gehen.
Etwas abgeschwächt kann ein neutrales Fernsehen Informationen «auf die Couch» liefern. Zeitungen werden deshalb nicht überflüssig. Eine Medienförderung kann es aber nicht für Parteizeitungen geben, sondern nur für freie Medien.

Stellen wir uns vor, es gibt eine neutrale Zeitung (kann auch in einem eigenen Anhang der aktuellen Zeitungen sein), in der jeder Bericht von einem Schreiber und seiner Ansicht deklariert wird, und jeder Liechtensteiner – entgegen der Leserbriefzensur, aber innerhalb ethischer Werte – die Möglichkeit hat, darin seine Meinung kundzutun. Eine wirkliche Demokratie muss uns das wert sein. Der Schlüssel für eine «wahre» Demokratie ist eine Demokratisierung öffentlicher Kommunikation, eine Klarstellung zwischen Nachricht und Meinung, eine Erhöhung der Quellenvielfalt, die Stärkung des freien Journalismus und dazu die Bildung mit mehr Humanismus.

*Aus der Vornamensstatistik 2019. Der Essay ist grundsätzlich genderneutral gedacht.

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