Digitale Identität und Chatkontrolle: Wie viel Freiheit bleibt uns in Europa?
Die aktuellen Entwicklungen in der EU werfen ernste Fragen darüber auf, wie weit europäische Institutionen bereit sind, in die digitale Freiheit ihrer Bürgerinnen und Bürger einzugreifen.
Mit der Einführung einer europäischen digitalen Identität und den parallel diskutierten Überwachungsmassnahmen entsteht der Eindruck, dass die EU zunehmend Kontrolle über die Online-Kommunikation ausbauen möchte – oft unter dem Vorwand des Kinderschutzes. Auch wenn dieser Schutz ein berechtigtes Anliegen ist, darf er nicht als Türöffner für weitreichende Eingriffe in die Privatsphäre dienen.
Die neue eIDAS-Regelung, die eine EU-weite digitale Identität einführt, mag offiziell freiwillig sein. Doch die politische Realität zeigt, dass solche Systeme schnell Druck erzeugen: Sobald grosse Plattformen oder Behörden sie als Standard betrachten, wird aus «freiwillig» sehr leicht ein faktischer Zwang. Für viele Bürgerinnen und Bürger bedeutet das den Verlust der Möglichkeit, sich frei, anonym oder transparent geschützt im Internet zu äussern. Genau diese Formen der Kommunikation sind jedoch ein wichtiger Bestandteil demokratischer Gesellschaften – und werden durch Artikel 7 und 8 der EU-Grundrechtecharta geschützt.
Noch problematischer ist, wie nah die EU mit der geplanten CSA-Verordnung – der sogenannten Chatkontrolle – an eine umfassende Massenüberwachung herangerückt ist. Der ursprüngliche Entwurf hätte die private Kommunikation aller Menschen automatisch scannen lassen, ohne jeden Verdacht. Dass ein solches Gesetz überhaupt vorgeschlagen wurde, zeigt, wie weit sich EU-Institutionen von den eigenen rechtsstaatlichen Prinzipien entfernt haben. Erst nachdem Datenschutzbehörden, Bürgerrechtsgruppen und der Europäische Gerichtshof massive Kritik geäussert hatten, ruderten die EU-Staaten Ende 2025 zurück, wie Reuters berichtete. Doch selbst in abgeschwächter Form bleibt der Gesetzesansatz gefährlich: Freiwillige Scans und technische Hintertüren untergraben weiterhin die Sicherheit verschlüsselter Kommunikation.
Zusammengenommen entsteht das Bild einer EU, die immer stärker auf Kontrolle setzt: eine zentrale digitale Identität, verbunden mit der Möglichkeit, Kommunikationsinhalte zu prüfen oder technische Standards zu beeinflussen. Selbst wenn die Massnahmen offiziell beschränkt oder «zweckgebunden» sind, besteht das Risiko, dass diese Strukturen langfristig ausgeweitet werden. Die Erfahrung zeigt, dass Überwachungssysteme selten beim ursprünglichen Anlass bleiben – und dass politische Institutionen, einmal mit solchen Werkzeugen ausgestattet, dazu neigen, ihren Einsatzbereich zu vergrössern.
Kinderschutz darf nicht als Argument dienen, Grundrechte zu schwächen. Er darf nicht als moralischer Deckmantel genutzt werden, um Eingriffe durchzusetzen, die weit über das hinausgehen, was erforderlich und verhältnismässig ist. Wenn die EU ihre Glaubwürdigkeit als Hüterin von Freiheit und Demokratie behalten will, muss sie sicherstellen, dass Datenschutz und Privatsphäre nicht zu verhandelbaren Grössen werden. Ein Rechtsstaat zeichnet sich dadurch aus, gerade in sensiblen Bereichen Zurückhaltung zu üben – nicht dadurch, seine Macht auszuweiten.
Die EU ist zunehmend auf einem Weg, digitale Informationen zu kontrollieren. In politischen Diskussionen wird «Fehlinformation» als eines der grössten Risiken der Zukunft beschrieben, und genau darin liegt die Gefahr: Unter dem Schlagwort der Bekämpfung von Desinformation können Massnahmen entstehen, die tief in die Informationsfreiheit eingreifen. Wenn politische Institutionen beginnen, festzulegen, welche Inhalte als «korrekt» gelten sollen, rückt eine Regulierung der digitalen Öffentlichkeit schnell in Richtung Informationslenkung und Kontrolle.
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