Volkswahl der Regierung?JA, selbstverständlich! Das sagen die Experten zur DpL-Initiative

Demokratien gibt es zweierlei: In präsidentiellen Demokratien wählt das Volk das höchste Regierungsmitglied und unabhängig davon auch das Parlament. In parlamentarischen Demokratien wählt das Volk nur das Parlament und dieses dann das höchste Regierungsmitglied. Zweiteres ist in Europa auf nationaler Ebene viel häufiger. Auf kommunaler Ebene hingegen ist die Direktwahl des Regierungschefs durch das Volk oft eine Selbstverständlichkeit.

Text: Prof. Dr. Reiner Eichenberger und Prof. Dr. David Stadelmann

DER WELT VORAUS

Das in Liechtenstein zur Abstimmung stehende Wahlverfahren sprengt die internationalen Standards. Gefordert wird die Volkswahl bzw. -nomination des Regierungschefs mit der einfachen Mehrheitsregel sowie der vier Regierungsräte mit der Mehrheitsregel in zwei Wahlkreisen mit je zwei Sitzen für das Ober- und Unterland. Dieses besondere Verfahren heisst in der Wissenschaft «Mehrheitswahl in Mehrpersonenwahlkreisen». International gebräuchlich sind Mehrheitswahlen in Einpersonenwahlkreisen, in denen also nur eine Person zu wählen ist, zum Beispiel ein Präsident, ein Bürgermeister oder ein Parlamentsabgeordneter.

Volkswahlen aller Regierungsmitglieder mit der Mehrheitsregel in Mehrpersonenwahlkreisen gibt es bisher wohl nur in der Schweiz. In fast allen Kantonen und den meisten Gemeinden werden die fünf bis neun Regierungsmitglieder jeweils in einem Wahlkreis mit der Mehrheitsregel gewählt. Zudem werden die Ständeräte in 18 der 20 Kantone mit zwei Sitzen mit der Mehrheitsregel in einem einzigen Wahlkreis gewählt – also so wie nun in Liechtenstein vorgeschlagen die je zwei Regierungsräte im Ober- und Unterland. Die Schweizer Erfahrungen sind deshalb für Liechtenstein interessant. Gemäss unserer Forschung sind sie durchwegs positiv.

HEHRE ZIELE BESSER ERREICHEN

Separate Volkswahlen von Regierung und Parlament stärken die Gewaltenteilung und bringen fruchtbaren Wettbewerb zwischen den Parlamentsmitgliedern und der Regierung. Je nach den angewandten Wahlregeln können sie aber noch viel mehr leisten. Diese drei Ziele können besonders gut in gemischten Wahlsystemen erreicht werden, die das Verhältniswahlrecht und Mehrheitswahlrecht vereinen. Das leistet das in der Initiative vorgeschlagene Modell:

Die breite Abdeckung der verschiedenen Positionen resultiert aus der Verhältniswahl des Parlaments. Verhältniswahlen fördern die Entstehung vieler verschiedener Parteien, die das politische Spektrum von links bis rechts abdecken und so die Anliegen der Bürger breit reflektieren. Dieser Prozess wird aber vielerorts durch von den Wahlregeln vermittelte Anreize unterlaufen. So werden im gegenwärtigen liechtensteinischen System die Regierung typischerweise durch die zwei grossen Parteien gebildet. Als Folge ist es für Bürger, die sich eigentlich durch eine der kleineren Parteien besser repräsentiert fühlen, vernünftig, statt ihrer kleinen Lieblingspartei die ihnen näherstehende der zwei grossen Parteien zu wählen, um ihr Gewicht in der Regierung zu stärken. Damit reflektiert die Sitzverteilung im Parlament nicht mehr die wahren Präferenzen der Bürger. Der öffentliche Diskurs ist so verzerrt und die Kräfte zur Einmittung der grossen Parteien und damit der Regierung geschwächt.

Wenn hingegen Parlament- und Regierungswahlen getrennt werden, können die Wähler in der Parlamentswahl ihre Stimme frei von strategischen Erwägungen vergeben. Dadurch werden die Bürger im Parlament breiter repräsentiert und so der öffentliche Diskurs sowohl für die Bürger und die Regierung informativer.

WAHLMECHANIK BRINGT EINMITTUNG

Besonders relevant ist sodann, wie die Mehrheitswahl in Mehrpersonenwahlkreisen die Regierung einmittet. Mehrheitswahlen bieten den Kandidaten ganz allgemein Anreize, sich stärker in der Mitte zu positionieren als in Verhältniswahlen. Falls es aber nur einen Sitz zu besetzen und mehr als zwei Kandidaten gibt, riskieren gut eingemittete Kandidaten, zwischen anderen Kandidaten «eingeklemmt» zu werden.

Die Kandidaten rechts und links von Ihnen ernten dann die vielen Stimmen der eher rechten und linken Wähler, während für sie nur die Stimmen der wenigen völlig mittig orientierten Wählern bleiben.

Das ändert sich, sobald mehrere Sitze zu besetzen sind. Mit, wie nun in Liechtenstein anvisiert, zwei Sitzen pro Wahlkreis sind die Anreize der Kandidaten, sich möglichst genau in der politischen Mitte zu positionieren, viel stärker. Das Problem des «Einklemmens» tritt erst auf, wenn die eingemitteten Kandidaten rechts und links je wenigstens zwei Konkurrenten haben, also ab fünf Parteien. Aber selbst dann sind ihre Anreize zur Einmittung noch wesentlich stärker, als wenn nur ein Regierungsmitglied gewählt würde.

Insgesamt bringt so das neue Wahlsystem eine breitere, genauere Repräsentation der Wähler im Parlament sowie eine besser eingemittete Regierung und damit eine Politik, die den Präferenzen der Bürger besser entspricht.

HINFÄLLIGE EINWÄNDE

Oft wird behauptet, bei den nun vorgesehenen Mehrheitswahlen in Mehrpersonenwahlkreisen könnte die grösste Partei alle Regierungssitze gewinnen. Das wird durch die Schweizer Erfahrungen widerlegt: In den Schweizer Kantons- und Gemeinderegierungen, die im Grunde nach demselben System gewählt werden, herrscht Konkordanz. Fast ausnahmslos sind in den Regierungen immer Mitglieder von Parteien beider Seiten des politischen Spektrums vertreten. Denn für keine Partei lohnt es sich, so viele Kandidaten aufzustellen, wie Sitze zu vergeben sind. Je weniger Kandidaten sie aufstellen, desto stärker konzentrieren sich die Stimmen auf diese wenigen Kandidaten, was ihre Wahlchancen steigert.

Die beste Strategie für jede Partei ist, nur etwa so viele Kandidaten aufzustellen, wie es ihrem Wähleranteil entspricht. Als Folge können die Wähler nur alle ihre Stimmen einsetzen, wenn sie Kandidaten mehrerer Parteien wählen. Dadurch wird es für die Kandidaten umso wichtiger, neben den Wählern ihrer eigenen Partei auch den Wählern anderer Parteien zu gefallen, denn sonst erlangen sie keine Mehrheit. Wählbare Kandidaten müssen sich dementsprechend stark in der Mitte des politischen Spektrums positionieren, mit ihrer Kompetenz überzeugen und die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit Politikern aller Parteien glaubwürdig signalisieren. So fördert das vorgeschlagene Wahlsystem nicht nur die Einmittung der Regierung, sondern auch ihre Kompetenz. Auch im Schweizer Ständerat zeigt sich eindrücklich, wie die Mehrheitswahl in Mehrpersonenwahlkreisen zu parteilich durchmischter Sitzbesetzung und Einmittung führt. Es ist eine absolute Ausnahme, dass die zwei Sitze eines Kantons von der gleichen Partei besetzt werden. In den mit Verhältniswahlrecht bestellten Parlamentskammern, dem Nationalrat und den kantonalen Parlamenten, sind die SVP die weitaus grösste und die SP die zweitgrösste Partei – auf Liechtenstein übertragen würden also sie die Regierung bilden. Tatsächlich aber liegen sie in den mit Mehrheitswahlen in Mehrpersonenwahlkreisen gewählten Gremien, den Kantonsregierungen und dem Ständerat, hinter den Parteien Die Mitte und FDP zurück. Schliesslich ist auch bemerkenswert, dass es in diese Gremien auch immer wieder Vertreter der kleineren Parteien oder gar Parteiunabhängige schaffen.

Trotz aller Erfolge auf kantonaler und kommunaler Ebene wurde die Direktwahl der Regierungen mit Mehrheitswahlen in Mehrpersonenwahlkreisen noch nicht auf den Bundesrat übertragen. Entsprechende Volksinitiativen fanden keine Mehrheit. Die Gründe dafür sind unseres Erachtens folgende:

Die vier grössten Schweizer Parteien halten sich seit 1959 freiwillig an die «Zauberformel» – der Verteilung der sieben Bundesratssitze auf die vier grössten Parteien nach der Regel je zwei Sitze für die drei grössten und einen Sitz für die viertgrösste Partei. Diese Formel schützt die vier «Kartellparteien» vor unliebsamer Konkurrenz. Als Haupteinwand wurde in den Volksabstimmungen angeführt, die Volkswahl könnte die faire Vertretung der Sprachregionen gefährden und eine starke Mediatisierung der Wahlen bringen. Diese Einwände sind unseres Erachtens unberechtigt und für das kleinere und homogenere Liechtenstein irrelevant. Zudem bietet der Initiativvorschlag für den «Liechtensteiner Röstigraben» zwischen Ober- und Unterland eine kluge Brücke, indem sie zwei Wahlkreise mit jeweils zwei Kandidaten für die Regierung fordert.

So könnte das neue Wahlsystem in Liechtenstein bald ein Modell für die Schweiz werden. Die Autoren erforschen gemeinsam die Eigenschaften von Mehrheitswahlen in Mehrpersonenwahlkreisen. Eine ausführliche Analyse der hier diskutierten Mechanismen bietet: Eichenberger, Reiner, Marco Portmann, Patricia Schafer und David Stadelmann (2021). Mehrheitswahlen in Mehrpersonenwahlkreisen:

Ein Schweizer Erfolgsrezept? Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 22(4), 315-329.

Anschrift: Universität Fribourg, Bd. de Pérolles 90, CH-1700

Fribourg, Tel. +26 300 82 62/66, e-mail reiner.eichenberger@unifr.ch.

 

Prof. Dr. Reiner Eichenberger

Reiner Eichenberger ist seit 1998 Professor für Theorie der Wirtschafts- und Finanzpolitik an der Universität Fribourg sowie Mitbegründer und Forschungsdirektor von CREMA (Center for Research in Economics, Management and the Arts). Spezialisiert ist er insbesondere auf die ökonomische Analyse des politischen Prozesses und politischer Institutionen. Er sieht gute Ökonomen nicht als Prediger des perfekten Marktes, sondern als Spezialisten für Marktversagen und dessen Heilung. Da der politische Bereich als Markt für politische und staatliche Dienstleistungen analysiert werden kann, sind Ökonomen auch Spezialisten für Politik- und Staatsversagen und dessen Heilung. Entsprechend versucht er, mit einfachen ökonomischen Denkmustern komplexe gesellschaftliche Probleme besser zu verstehen und fruchtbare Lösungsvorschläge zu entwickeln. Er hat drei Bücher, über 140 wissenschaftliche Aufsätze und unzählige Beiträge in populären Medien publiziert. Er ist Mitherausgeber der sozialwissenschaftlichen Fachzeitschrift Kyklos und war Mitglied der Eidgenössischen Kommunikationskommission ComCom. Im Ranking von NZZ und FAZ zum gesellschaftlichen Einfluss von Ökonomen in der Schweiz belegte er seit 2016 jeweils den zweiten Platz. 2016 wurde ihm der STAB-Preis (Stiftung für Abendländische Ethik und Kultur) verliehen. Er war 2015-2017 Dekan der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg sowie 2017-2021 Mitglied und 2019-2021 Vizepräsident des Senats der Universität Freiburg.

Prof. Dr. David Stadelmann 

Prof. Dr. David Stadelmann ist seit 2013 Professor für Wirtschaftspolitik und wirtschaftliche Entwicklung (Ruf im Alter von 29 Jahren) an der Universität Bayreuth (Deutschland). 2006 schloss er einen Master in Volkswirtschaftslehre (zweisprachig D/F), 2008 einen Master in Mathematik (zweisprachig D/F) und im Januar 2010 eine Promotion zum Doktor der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften ab.

Von 2006 bis 2013 war Stadelmann wissenschaftlicher Mitarbeiter und Oberassistent am Departement für Volkswirtschaftslehre an der Université de Fribourg (Schweiz). Von 2007 bis 2009 arbeitete er als Freelancer in Statistik für eBay International in Bern. Er ist Forschungsmitglied zahlreicher internationaler Einreichungen, u.a. bei CREMA (Center for Research in Economics, Management and the Arts), BEST (Centre for Behavioural Economics, Society and Technology), dem Walter-Eucken-Institut, IWP (Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik an der Universität Luzern) oder dem Ostrom Workshop der Indiana University. Stadelmann ist Autor von über 80 wissenschaftlichen Artikeln in weltweiten Fachzeitschriften. Er verfasste über 200 Zeitungs-, Zeitschriftenartikeln sowie Blogbeiträge. Er erhielt u.a. Auszeichnungen durch die Ludwig Erhard Stiftung, das Land Vorarlberg, den Verein für Socialpolitik und die Zeitschrift Capital. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich politischer Ökonomie, wirtschaftlicher Entwicklung, Wirtschaftspolitik und außermarktliche Ökonomie.Er ist unter den TOP-Young-Economists im deutschsprachigem Raum nach Forschungsmonitoring. Seit 2015 ist er Mitherausgeber der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fachzeitschrift KYKLOS–International Review for Social Sciences.

Weitere Informationen sind einsehbar auf www.entwicklung.uni-bayreuth.de/en/team/david-stadelmann/index.html

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